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Federleicht

Um viertel nach zwölf schwebt eine Feder zur Erde (kann sein, sie gehört einem Engel). Sie bleibt an einem Zweig hängen, den ein älterer Herr im Vorübergehen streift. Drei Schritte lang wird sein Gang leicht, dann erfasst eine Windböe die Feder und weht sie ein Stück die Straße hinauf, dem älteren Herrn hinterher.

Ein kleiner Junge steht an der Bushaltestelle, an der beide vorbeikommen. Er drückt die Hand der Mutter, mit der sie ihn festhält, und deutet auf die Feder, die der Wind auf und ab wirbelt. Der Junge reißt sich los und hüpft fröhlich lachend der tanzenden Feder hinterher, die unaufhaltsam vorwärts schwebt.

Der ältere Herr, zurück in seinem schweren Gang, der ihn zum Krankenhaus führt, um seine verletzte Tochter zu besuchen, hört das Lachen des Jungen. Er dreht sich gerade rechtzeitig um, als zuerst die Feder gegen seine Brust weht und gleich darauf der kleine Junge in seine Arme stolpert. Der ältere Herr stimmt überrascht in das Lachen des kleinen Jungen ein und fühlt ein leichtes Flattern in seinem Bauch.

Die Mutter, gerade bei den beiden angekommen, zieht ihren Sohn von dem fremden Mann fort. Der Bus, den Mutter und Sohn just verpassen, fährt vorbei. Sein Fahrtwind wirbelt die Feder erneut auf. Sie steigt in die Höhe. Der ältere Her, der kleine Junge und die Mutter schauen ihr gebannt hinterher. Hoch hinauf weht sie, so dass die drei geblendet vom Sonnenlicht blinzeln. Alle spüren dasselbe Kribbeln.

Der ältere Herr hat plötzlich das Bild seiner Tochter vor Augen, bei einer Karnevalsfeier im Kindergarten, als Fee verkleidet, mit einer rosa Federboa um den Hals.

Die Mutter fühlt sich an einen lang zurückliegenden Urlaub an der See erinnert, als kreischende Möwen sie umkreisten, während sie eine Flaschenpost mit dem dringenden Wunsch nach einem Kind, adressiert an das Universum in die wogenden Wellen gab.

Der kleine Junge sieht die leuchtenden Augen der beiden, das helle Licht der Sonne und die tanzende Feder. Er lacht und hüpft vor Freude. Zuletzt fängt er die Feder, die langsam herab trudelt, gibt sie dem älteren Herrn und sagt: „Ich glaube, das ist deine.“

Um viertel vor eins betritt ein älterer Herr mit federnden Schritten das Krankenhaus und pustet sacht eine Feder in das Zimmer seiner Tochter.

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