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Engel (drei Versionen)

Als Günther umschult zum Engel fällt seine Frau vom Glauben ab.

Sein Sohn starrt ihn mit offenem Mund an und sagt: „Alter, echt jetzt?“

Seine ehemaligen Kollegen lachen ihn aus, erst hinter seinem Rücken, dann direkt ins Gesicht.

Seine Ärztin schickt Blut ins Labor, horcht ihn ab und überweist ihn an einen Neurologen.

Die Nachbarn beäugen ihn misstrauisch, wann immer sie ihm begegnen.

Seine Mutter, die in einer Demenz-Einrichtung lebt, nimmt sanft sein Gesicht in ihre Hände und schaut ihn aus seltsamen klaren Augen durchdringend an. „Endlich!“, seufzt sie, „ich wusste immer schon, dass ein Engel in dir steckt.“

 

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Als Günther umschult zum Engel fällt seine Frau vom Glauben ab. Das ist verkehrte Welt, findet sie. Eben noch Brummifahrer und ewig wütender Miesepeter, jetzt plötzlich Engel? Niemals!

Auch Carlotta, seine Tochter, ist anfangs misstrauisch, als ihre Mutter am Telefon davon berichtet. Gesehen haben die drei sich seit Jahren nicht. Seit jenem Tag, an dem Vati brüllend das Geschirr von Muttis Geburtstagstisch gefegt hat. Carlotta ist danach zu ihren Großeltern gezogen. Mutti aber ist bei Vati geblieben. Carlotta hat nie verstanden, wieso. 

Sie hat also allen Grund misstrauisch zu sein. Und doch ... vielleicht ... wenn ihr Vati wirklich zum Engel wird ... Einen Funken Hoffnung in sich kann Carlotta nicht verleugnen.  Und heißt es nicht immer, bei Gott bekäme jeder eine zweite Chance? Jetzt also vielleicht Vati. 

Carlotta schaut in den Himmel sucht nach einem Zeichen, dass Gott es ernst meint. Und Vati auch. Als sie eine Feder trudelnd zur Erde schweben sieht, legt sich ein Strahlen auf ihr Gesicht.

 

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Als Günther umschult zum Engel fällt ihm der Abschied aus seinem alten Leben nicht schwer. Einsame Tage und betrunkene Nächte sind nicht das, wonach er sich immer gesehnt hat. Es war nur das, was übriggeblieben war, nachdem Elsa ihn verlassen hatte. Pah, verlassen - denkt Günther. Elend krepiert ist sie, so sieht's doch aus. Und er konnte nichts dagegen tun. Nur zusehen. Und Gott verfluchen. Der es zulässt, dass seine Elsa so leidet. 

Und so hat Günther einen Plan geschmiedet. Er will sich rächen. An Gott. Für das Unrecht. Und wie käme er besser an Gott heran, wenn nicht als einer seiner Engel?

Das Problem ist nur: Seit Günthers Umschulung begonnen hat, ist in ihm viel passiert. Die mordlüsternen Rachepläne fielen in sich zusammen, als hätte ihnen jemand die Luft abgelassen. Selbst die Idee, sich wenigstens lautstark zu beschweren, verpuffte mit der Zeit. Am Ende blieb der Wunsch, Gott einfach nur zu treffen. Ohne Plan. Mal sehen, wohin das führt.

Bis es so weit ist, übt Günther sich im Engel sein.

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Kommentare: 1
  • #1

    Barbara Helling (Donnerstag, 05 Dezember 2024 08:17)

    Wunderbar - so kurz und so prägnant. Danke