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Nikolaus

Nikolaus steht vor der Tür. Ich hätte ihn fast nicht erkannt.

„Ich brauchte mal eine Typ Veränderung“, sagt er. „Nach 1700 Jahren wird es Zeit“. 

Klassische Midlifecrisis, denke ich bei mir, während ich ihn eingehend betrachte. Das markante glatt rasierte Gesicht wird von dichten schwarzen Locken umrahmt. Der Oberkörper steckt in einem hautengen Shirt, das meinen Blick auf die frisch modulierten Muskeln lenkt. Ich ahne, dass die schmalgeschnittene Hose einen ebenso antrainierten Knackarsch abbildet, doch der entzieht sich meinem Blickfeld. Immerhin, seinem Farbschema ist Nikolaus treu geblieben: schwarze Hose, rotes Oberteil, ein weißer Leinenschal ist um seinen Hals gewickelt. Er sieht aus wie einer dieser durchtrainierten Mittzwanziger in den unzähligen Muckibuden der Stadt. Erkannt habe ich ihn lediglich am Geschenkesack, der wie immer alt und ausgefranst neben ihm steht. 

„Dir hat es wohl die Sprache verschlagen“, sagt er.

Ich nicke wortlos und bemühe mich, das hysterische Lachen zu unterdrücken, das in mir aufsteigt. 

„Es gefällt dir nicht“, bemerkt er trotzdem.

Jetzt kann ich nicht mehr an mich halten. Ich pruste los und sehe Nikolaus durch meine Lachtränen hindurch nur noch verschwommen. Er greift in seinen Sack und drückt mir ein Päckchen in die Hand. 

„Na, Hauptsache dir gefällt, was ich dir mitgebracht habe“, sagt er, dreht sich um und geht. Endlich gelingt es mir, mich zu beruhigen. 

„Tut mir leid“, rufe ich Nikolaus hinterher. Dann fällt mein Blick auf das Päckchen in meinen Händen. Darin finde ich ein Buch. Es trägt den Titel „Die Macht der inneren Bilder“. Nikolaus hat mir eine Widmung hinein geschrieben: "Überzeugungen hinterfragen, Formen der Gesellschaft und des Zusammenlebens neu denken, ein sinnerfülltes Dasein finden – all das braucht Mut. Machst du mit? Grüße, Nikolaus."

Ich schlucke, winke ihm in Gedanken noch einmal nach und hoffe, er kommt nächstes Jahr wieder zu mir. Bis dahin versuche ich, meine inneren Bilder und Überzeugungen besser zu prüfen, ehe ich ein Urteil fälle.

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