Als das Misstrauen ein Kaninchen adoptierte, war das keine freiwillige Entscheidung. Es hatte beim letzten Gefühlsstammtisch eine Wette gegen die Begeisterung verloren – die Adoption war der Wetteinsatz gewesen. Immerhin hatte das Misstrauen durchsetzen können, dass es das Kaninchen selbst aussuchen und dann sofort mitnehmen dufte. Wer weiß, ob einer der Gefühlskollegen, die die Wette gebannt beobachtet hatten, das Tier sonst irgendwie manipuliert hätte – mit Fernsteuerung und Videoüberwachung ausgestattet, zum Beispiel.
Nun saß das Misstrauen also vor seinem Kaninchen. „Ich nenne dich Fritz“, sagte das Misstrauen, ungeachtet der Tatsache, dass am Kaninchenstall der Name „Puschel“ auf einem Schild stand.
Es öffnete den Stall und beäugte das Tier. Neugierig kam Fritz auf ihn zu gehoppelt, wackelte mit der Nase, so dass die dünnen Haare daran hin und her zuckten. Das Misstrauen argwöhnte, das Kaninchen könnte rauspringen oder fortlaufen. Schnell klappte es die Stalltür wieder zu. Fritz erschrak und sprang zurück. Auch das Misstrauen zuckte vor Schreck.
Erst am nächsten Tag näherten sich beide wieder vorsichtig der Stalltür. So ging es eine Weile hin und her. Annähern, zurückschrecken, Futter reichen, fallen lassen, erneut reichen, Hand ausstrecken, Tasthaare bewegen, Kontakt herstellen, zurückziehen, beobachten, nochmal versuchen.
Das Misstrauen staunte, wie sehr das Kaninchen ihm ähnelte. Bis es zuletzt auf seinem Schoß hockte. Fritz saß dort entspannt, knabberte an einem Salatblatt, dass das Misstrauen ihm hinhielt und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
Obwohl das Misstrauen es durchaus versuchte. Es wackelte an einem der Ohren, strich das Fell von hinten nach vorne, hielt eines der Tasthaare fest. Nichts. Keine Reaktion. Fritz saß da und fraß weiter. Und endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erkannte das Misstrauen, dass Fritz auch ihn beruhigte, seine Fragen und Zweifel mit seinem weichen Fell bedeckte und alle Unsicherheit in den Knopfaugen des Kaninchens versanken.
Als das Misstrauen beim nächsten Gefühlsstammtisch der Begeisterung begegnete und sie ihn enthusiastisch fragte, wie denn das Leben mit Kaninchen sei, antwortete des Misstrauen: „Wunderbar!“
Die Begeisterung musterte das Misstrauen erstaunt.
„Es hat mein Leben verändert“, fuhr das Misstrauen fort. „Ich habe eine Umschulung beantragt. Ich will mich zum Vertrauen ausbilden lassen.“
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Iris (Sonntag, 15 Dezember 2024 14:36)
Klasse!